Anna Rosenwasser sitzt im Schneider*innen-Sitz auf einem Sofa und erzählt einige Anekdoten aus dem Nationalrat. Davon, dass letzthin die Ergebnisse des parlamentarischen Jassturniers bekannt gegeben wurden und dass sie daraufhin über ein parlamentarisches Drag Race nachzudenken begann. Bei einem Drag Race schlüpfen Menschen in eine Bühnenfigur, mithilfe derer sie ein anderes Geschlecht in übertriebener Weise performen und treten in verschiedenen Herausforderungen gegeneinander an.
Eine normale Lesung der Autorin, Kolumnistin, Aktivistin und – seit letztem Herbst – Nationalrätin Anna Rosenwasser also. Nur befindet sich das rote Sofa mitten im Ratssaal des Berner Rathauses. Ein ungewohnter Ort für eine Lesung also. Oder eine ungewohnte Veranstaltung für diesen Ort. Zwar läutete Stadtratspräsidentin Valentina Achermann die «Sitzung» mit einer silbernen Glocke kurz nach 19:00 Uhr ein, doch ansonsten ist so ziemlich alles anders als an den Stadtratssitzungen.
An diesem Montagabend ist der Ratssaal viel voller als an den Donnerstagabenden, an denen der Stadtrat tagt. Rund 180 Personen, mehrheitlich junge und queere Menschen, besetzen die Plätze, an denen es sich sonst die Ratsmitglieder gemütlich machen. Sie sind hier, um Anna Rosenwasser und Sascha Rijkeboer zu lauschen, wie sie aus ihren Texten vorlesen und Anekdoten erzählen.
Anna Rosenwasser arbeitete lange Zeit bei der Lesbenorganisation Schweiz (LOS), ist Kolumnistin für die Republik und hat letztes Jahr das Buch «Rosa Buch – Queere Texte von Herzen» herausgegeben. Letzten Herbst kandidierte sie im Kanton Zürich auf der Liste der SP für den Nationalrat und wurde mit einem überwältigenden Resultat gewählt.
Sascha Rijkeboer (Pronomen: they/their) ist vor allem durch die Sichtbarmachung von non-binären Menschen in der Deutschschweiz bekannt geworden. They arbeitet auf verschiedenen Ebenen aktivistisch und wurde von einem Basler Filmemacher im preisgekrönten Film «Being Sascha» portraitiert. Sascha drückt sich auch selber künstlerisch aus, zum Beispiel im Schreiben, Performen, Theater und Film. Zuletzt erschienen ist Sascha im Essayband «Oh Boy» herausgegeben im Kanonverlag (Berlin). Sascha arbeitet aktuell an einem Lyrikprojekt mit dem Titel «My Venus is in Cancer».
Rosenwasser und Rijkeboer wurden beide durch ihre Texte und ihren Aktivismus innerhalb der queeren Community bekannt (siehe Info-Box). Beide erreichen auf Instagram tausende von Menschen. An diesem Abend lesen sie Texte über Pinkwashing, Konsens, Antisemitismus und Crushes.
«Die Idee war eine Eingebung»
Organisiert hat die Lesung Judith Schenk. Sie sitzt selber als Stadträtin regelmässig in diesem Ratssaal. Für eine Lesung eigne sich der Ort, weil er niederschwellig sei und keine*n ausschliesse: «Es ist kein szeniges Kulturlokal, in das sich ältere Leute vielleicht nicht rein trauen würden, sondern ein Ort, der für uns alle gedacht ist.»
Das Rathaus kann grundsätzlich von allen für eine Vielzahl von Veranstaltungen gemietet werden. Der Idee, hier eine Lesung zu veranstalten, gingen aber keine entsprechenden Überlegungen über Zugänglichkeit und die Funktion von öffentlichen Gebäuden voraus, vielmehr sei es Eingebung gewesen.
Viele sehen Politik als etwas völlig Entrücktes, Abgehobenes und sprechen von ‹denen da oben in Bern›, statt zu realisieren, dass im Grunde alles politisch ist.
Eine solche Verbindung zwischen Politik und Kultur erachtet Schenk als enorm wichtig, denn damit werde die Politik auch zugänglicher. «Viele sehen die Politik als etwas völlig Entrücktes, Abgehobenes und sprechen von ‹denen da oben in Bern›, statt zu realisieren, dass im Grunde alles politisch ist.»
Dabei helfe es, dass die Parlamente diverser werden und nicht nur aus älteren Herren in Anzügen und grauen Mänteln bestehen. «Die Politik sollte die Gesellschaft repräsentieren», sagt Judith Schenk, deshalb sei es wichtig, dass es Stimmen wie Anna Rosenwasser gibt, die andere Perspektiven einbringen können.
Die Lesung sei auch in gewisser Weise eine Möglichkeit für die queere Community, sich diesen Raum anzueignen. Judith Schenk stellte sich dabei aber auch die Frage, ob ihr das als cis hetero Frau überhaupt zustehe. Nach Gesprächen mit Menschen aus der Community kam sie aber zum Schluss, dass das kein Problem darstellt.
Überhaupt soll die Veranstaltung trotz Safer Space grundsätzlich für alle Interessierten offen sein. Und dafür seien Sascha Rijkeboer und Anna Rosenwasser genau die richtigen: «So wie Sascha und Anna sprechen, ist es sehr zugänglich. Sie sprechen sehr verständlich, auch für Menschen, die sich mit queeren Themen noch nicht gross auseinandergesetzt haben.»
Diversity-Marketing und Sexualität in der Lyrik
Den Anfang der Lesung muss Anna Rosenwasser noch alleine bestreiten – der Zug von Sascha Rijkeboer hat über eine Stunde Verspätung. Das Publikum verhält sich zuerst noch etwas zurückhaltend, was an der förmlichen Atmosphäre des Raumes liegen könnte. Als nach dem ersten Text von Anna Rosenwasser, das Publikum andächtig schweigt, bricht die Autorin die Stille: «Ihr könnt das Publikum sein, das akward schweigt oder eines, das klatscht.» Die grosse Mehrheit entscheidet sich für Letzteres.
Bald gerät die Förmlichkeit des Raumes in Vergessenheit.
Als Sascha Rijkeboer den Saal auf einem E-Scooter betritt und an den Rängen recht zügig vorbeifährt, direkt auf Anna zu, ist das Eis definitiv gebrochen. Einen solchen Auftritt hat hier wohl noch selten wer hingelegt. Es wird applaudiert, und Sascha setzt sich zu Anna auf das rote Sofa.
Sascha liest einen Text über die Auseinandersetzung mit Werbeanfragen von Unternehmen, die mit queeren Menschen ihr Image verbessern möchten. Rijkeboer kommentiert die Handlung durch eingestreute Anglizismen ständig und sorgt durch schauspielerische Einlagen für reichlich Unterhaltung. Damit packt they das Publikum und bald gerät die Förmlichkeit des Raumes in Vergessenheit.
Dafür sorgen auch die Unterhaltungen zwischen Rijkeboer und Rosenwasser. Nachdem Rijkeboer ein Gedicht über Orgasmen vorgetragen hat, bezeichnet Rosenwasser den Text als «Sex-Gedicht». «Das finde ich jetzt etwas abwertend», sagt Sascha Rijkeboer darauf.
Rosenwasser will wissen, warum they das so empfinde. Es folgt eine Diskussion über schlüpfrige Texte und die Kunst, sexuelle Erfahrung in Texten mit einem gewissen Anspruch zu verarbeiten. So schaffen es die beiden, von lockeren humorvollen Gesprächen auf tiefschürfende Diskussionen zu kommen.
Ich möchte als trans Person Liebeslyrik schreiben, wie cis hetero Menschen das seit vielen hunderten von Jahren können.
Den roten Faden durch beinahe alle Texte an diesem Abend bilden die Erfahrungen und Perspektiven von queeren Menschen. Dennoch ist es für die Autor*innen wichtig zu betonen, dass queere Künstler*innen nicht unbedingt queere Kunst machen müssen. In erster Linie seien sie schliesslich Künstler*innen, ganz ohne weitere Attribute.
«Ich möchte als trans Person Liebeslyrik schreiben, wie cis hetero Menschen das seit vielen hunderten von Jahren können. Als trans Person werde ich aber immer angefragt für trans Texte, ich muss immer über Geschlecht und soziale Gerechtigkeit schreiben», sagt Rijkeboer im Gespräch nach der Veranstaltung dazu. Dabei habe they auch Crushes und möchte einfach so selbstverständlich darüber schreiben, wie cis hetero Menschen.
Dass ein queerer Kulturanlass mit Kunst von queeren Menschen an einem Ort wie dem Rathaus stattfinden kann, empfinden beide als wichtigen Schritt, der hilft, queere Existenzen in der Gesellschaft zu normalisieren. Und dass hier überhaupt Kunst stattfindet und in lockerer Atmosphäre geplaudert, gewitzelt und gelacht wird, nehme dem Ort die Aura der Wichtigkeit.
Die Lesung hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass sich mehr Menschen wohl und willkommen im Rathaus fühlen und dass Kultur hier selbstverständlich stattfinden darf.
«Ich befinde mich beim Bundeshaus noch in einem Akzeptanzprozess damit, wie viel Macht dieses Gebäude ausstrahlen will. Als ich letztes Jahr hier gelesen habe, hat mich das bereits überfordert, im Bundeshaus überfordert es mich immer noch», meint Anna Rosenwasser dazu.
Was das Berner Rathaus angeht, so hat die Lesung auf jeden Fall dazu beigetragen, dass sich an diesem Ort mehr Menschen wohl und willkommen fühlen und dass Kultur hier selbstverständlich stattfinden darf. Davon dürfte es in Zukunft gerne mehr geben. Ganz im Sinne der Parole: «Die Rathäuser denen, die sie repräsentieren!»